Experienteller Ansatz

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Prof. Dr. Simon Hahnzog – Systemische Beratung: Experienteller Ansatz

 

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Prof. Dr. Simon Hahnzog – Systemische Beratung:

Die experientelle Perspektive

Der experientelle (oder auch: erlebnisorientierte) Ansatz der systemischen Beratung wurde von Virginia Satir gemeinsam mit Vertretern der Palo-Alto-Gruppe und des Mental Research Institute begründet, die ursprünglich als Lehrerin und Sozialarbeiterin tätig war. Sie entwickelte ihren eigenen entwicklungsorientierten (oder auch: wachstumsorientierten) Stil, in dem sie zunächst vor allem mit Familien aus sozial schwachen Schichten arbeitete. Im Fokus dieses Ansatzes stehen unter anderem: Nutzung positiver „Energien“, Entwicklung von Wahlmöglichkeiten und kongruente zwischenmenschliche Kontakte.

Satir formulierte eine Reihe von (durchaus streitbaren) Glaubenssätzen, die Grundlage ihrer therapeutischen Arbeit waren. Auch im Rahmen der systemischen Organisations-beratung stellen diese Aussagen hilfreiche Haltungen dar, wie z.B.:

  • Veränderung ist möglich: Wenn eine äußere schwierig ist, ist in immer eine innere Veränderung möglich.
  • Wir alle verfügen über innere Ressourcen, die wir brauchen, um unser Leben erfolgreich zu gestalten und um innerlich wachsen zu können.
  • Wir verfügen über Wahlmöglichkeiten, besonders wenn es darum geht, in angemessener Weise mit Stress umzugehen, statt einfach nur auf die Situation zu reagieren.
  • Beratung sollte sich auf die Gesundheit und die Möglichkeiten der Klienten konzentrieren,
    statt auf ihre Pathologie.
  • Hoffnung ist ein signifikanter Faktor oder Bestandteil von Veränderung.
  • Die Menschen treten in Beziehung zueinander auf der Grundlage ihrer Gemeinsamkeiten, und sie wachsen aufgrund ihrer Verschiedenheiten.
  • Ein Hauptziel von Beratung ist es, dass wir in die Lage versetzt werden, eigenständig Entscheidungen zu treffen.
  • Die meisten Menschen ziehen die Vertrautheit dem Sich-Wohlfühlen vor, besonders in Stresssituationen.
  • Das Problem liegt nicht im Problem als solchen, sondern in der Art des Umgangs mit Schwierigkeiten.
  • Ereignisse in der Vergangenheit Können wir nicht ändern, aber die Auswirkungen, die sie auf uns haben.
  • Gesunde zwischenmenschliche Beziehungen gründen auf Gleichwertigkeit.

 

Diesem Ansatz ist zudem  die „Wiederentdeckung“ des Individuums in der systemischen Therapie und Beratung zuzuschreiben. Er betont die Bedeutung des individuellen Selbstwerts für das Funktionieren des Systems bzw. die Aufrechterhaltung eines Problems. Ein Ansatzpunkt liegt dabei häufig in der Stärkung des Selbstwerts eines Systemmitglieds. Ziel der Beratung ist, das individuelle Bedürfnis nach unabhängigem Wachstum und die Einheit des Systems zu integrieren.

Ein gemindertes Selbstwertgefühl wird den anderen meist nicht direkt mitgeteilt und ist eventuell auch dem Betroffenen selbst gar nicht bewusst. Hingegen werden alternative Handlungsmuster entwickelt, um die individuelle Schwäche in Konfliktsituationen zu überdecken. Im Lauf ihrer Arbeit stellte Satir vier prototypische Konfliktverhaltens-muster und deren mögliche Auswirkungen fest, die jedoch nicht als ausschließlich und umfassend anzusehen sind (vgl. Kommunikationstypen bei Schulz von Thun):

Beschwichtiger:

  • Botschaft:
    „Es ist alles meine Schuld. – Ich bin nur da, um dich glücklich zu machen.“
  • Selbsterleben: Angst vor Ablehnung und Verlassenwerden.
  • Syntax: Gebrauch von Einschränkungen: wenn, nur, gerade, überhaupt
    Verwendung vieler Konjunktive: könnte, würde.
  • Körperhaltung: Zusammengesunken, schwankend, Kopf stark
    nach oben gerichtet, Hand bittend nach vorne
  • Ressourcen: Liebevoll und sensibel.

Ankläger:

  • Botschaft:  „Wenn du nicht da wärst, wäre die Welt völlig in Ordnung! –
    Du machst nie etwas richtig!“
  • Selbsterleben: Furcht, dass eigene Schwäche erkannt wird.
  • Syntax: Universalquantoren: alle, jeder, nie
    Unterstellte Kausalzusammenhänge (wenn, dann: weil …)
    Verwendung von negativen Fragen: Warum tun Sie es nicht?
    Störung durch Behauptung kausaler Zusammenhänge.
  • Körperhaltung: Angespannt, verzerrt, flacher, gepresster Atem
  • Ressourcen: Übernimmt die Führung, Selbstbehauptung

Rationalisierer:

  • Botschaft: „Bei ruhiger und sachlicher Überlegung kann man feststellen, dass … .
    Alles sollte vernünftig betrachtet werden.“
  • Selbsterleben: Angst vor Erregung, Gefühlen und Kontrollverlust.
  • Syntax:
    Gebrauch von Nominalisierungen
    Gebrauch von Nomen ohne Bezugsindex: es, man, Leute etc.
    Tilgung des Subjekt / Subjektbezuges
  • Körperhaltung: Unbewegt, gespannt, reaktionsarm
  • Ressourcen: Intellekt und strategisches Denken.

Ablenker:

  • Botschaft: „Da fällt mir nichts ein, oder – halt, warten Sie – gestern
    begegnete mir ein Schauspieler, der wusste auch nicht … .
    Ich merke gar nicht, wenn Du mich angreifst.“
  • Selbsterleben: Sehnsucht und Angst vor Kontakt
  • Syntax: Willkürlicher Gebrauch aller drei o.g. Sprachmuster
    fehlende Bezüge und Anknüpfungen rasches Wechseln
    der obigen Muster
  • Körperhaltung: Unkoordiniert wirkende Bewegungen von Kopf,
    Rumpf, Extremitäten
  • Ressourcen: Spaß, Spontaneität, Kreativität

 

Die „gesunde“ Haltung ist der kongruenten Person, die ihre Emotionen und Kognitionen ausreichend wahrnehmen und offen ausdrücken kann. Ihr Selbstwert ist so stabil und gesichert, dass sie sich nicht hinter einer der vier dargestellten Konflikthaltungen „verstecken“ muss.

 

Eine der zentralen Methoden der systemischen Beratung, an deren Entwicklung der experientelle Ansatz (aufbauend auf dem Psychodrama Jakob Morenos) einen großen Anteil hat, ist die Skulptur. Die Skulpturtechnik ist ein Diagnose- und Interventionsinstrument, das eine symbolische Repräsentation des Systems ermöglicht. Dabei werden die Systemmitglieder selbst oder stellvertretende Protagonisten auf einer „Bühne“ zueinander in Beziehung gesetzt. Dies gestattet es den Teilnehmern Beziehungen, Emotionen, Gedanken, Erwartungen und Verdrängungen hautnah zu erfahren und zugleich vorzuzeigen. Das Unausgesprochene, Abgespaltene, Verleugnete kann in einer Skulptur sichtbar gemacht werden. Das Gestalten einer Skulptur ist ein prozesshafter Vorgang und umgeht die an die Sprache gekoppelten Abwehrphänomene – Vorgänge im System werden sinnlich-konkret erlebbar.

Möglichkeiten der Skulpturarbeit sind unter anderem:

 

Mögliche Vorgehensweisen sind u.a.:

  • Outside-In-Skulptur („Ich habe da so ein Bild von Ihnen … .“)
  • Inside-Out-Skulptur (Ein Systemmitglied stellt das System)
  • Simultan-Skulptur (alle Systemmitglieder suchen ihren Platz auf der „Bühne“)
  • Ist-Soll-Skulptur
  • Ereignisskulptur (vor/während/nach einem wichtigen Ereignis)

 

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